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Raffi #07 - Galoppierende Heidegeschichten

in Leila 11.03.2022 19:20
von Leila • 102 Beiträge | 174 Punkte

Ein bisschen Esme-Alltag kurz vor Weihnachten 2020.


Regen. Regenregenregen. Regen und nochmal Regen!
Nunja, sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie nach Rabenitz gezogen war, denn der Ort war für sein Wetter bekannt. Nur selten gab es weiße Weihnachten, meist waren sie grau, häufig nass dabei. Noch vier Tage bis Heiligabend und heute Abend ging der Einkaufsmarathon los. Maria hatte Raffi zu Heiligabend eingeladen, am ersten Weihnachtsfeiertag wollte die ganze Familie zu ihr kommen, denn im Wohnzimmer stand endlich der Esstisch, der in der Lieferung lange gebraucht hatte.
An ihrem letzten Arbeitstag vor Ort (kommende Woche waren zwei Tage Home Office und einer Urlaub angesagt) würde sie auch gar nicht im Büro sein, sondern zur Gravitzer Heide fahren. Sie war im Heidezentrum verabredet, um noch ein paar Infos zu bekommen, die sie in ihrem Artikel verarbeiten wollte. Das Historikum wollte ihren Artikel zur Entstehung der Gravitzer Heide umsetzen und neben den natürlichen Faktoren sollte auch das Gesellschaftliche ins Auge gefasst werden. Heute ging es im ersten Anlauf um die natürliche beziehungsweise eben nicht natürliche Entstehung der Heide gehen. Dafür hatte das Heidezentrum eine wunderbare Ausstellung zusammengebaut und deren Kuratorin wollte sie heute hindurch begleiten. Der kulturell-gesellschaftliche Part sollte dann im Januar ausgearbeitet werden.
Bevor sie jedoch in die Heide aufbrechen konnte, musste sie im Büro vorbei, denn sie hatte den mühsam ausgearbeiteten Interviewbogen dort vergessen - sehr praktisch! Und bevor sie aufbrach, musste sie noch die beiden plüschigen Monster besänftigen, die der Wohnung ihr Bewegungsprogramm auslebten. Beide hatten keine Lust, draußen zu toben.

Eine Weile später waren die Katzen vorerst ausgelastet, die Gummistiefel im Kofferraum (nur zur Vorsicht) und sie auf dem Weg ins Büro. Wie erwartet, lag der Zettel offen auf ihrem Schreibtisch. Die Straße in die Heide war gottseidank frei, der Weg in einer halben Stunde zurückgelegt und vor dem Heidezentrum wurde sie schon erwartet.
Der Rundgang war wirklich gut aufgemacht und das Museum sprach nicht nur Erwachsene an, er war auch kindgerecht gestaltet. Während ihres Rundgangs tobte auch eine Grundschulklasse um sie herum, die von einer jungen Frau im freiwilligen ökologischen Jahr geduldig herumgeführt wurde.
Gegen Mittag waren sie fertig, Raffi um ein gutes Stück klüger und hungrig genug, um im angeschlossenen Restaurant ein Mittagsangebot wahrzunehmen. Bei dem Wetter war der Eintopf genau das richtige und sie musste nicht unterwegs noch irgendwo etwas holen. Zurück im Büro brachte sie ihre Notizen in Ordnung und in den PC, ehe sie die Woche für beendet erklärte.
Auf dem Weg nach Hause hielt sie an und erledigte ausstehende Einkäufe, dann brauchten ihre beiden Tiger wieder Aufmerksamkeit. Als die beiden wieder entspannt in der Wohnung lagen, schmiss sich Raffi in die Reitsachen, denn Esme wollte heute auch noch beschäftigt werden.
Im Eingangsbereich kam ihr Johannes entgegen, der für Clara einige Einkäufe in die Wohnung trug.
"Braucht ihr noch Hilfe?", bot sich Raffi an.
Johannes drückte ihr die Tüten in die Hand.
"Hier, dann kann ich die Wasserkästen holen", erklärte er und Raffi brachte die Taschen zu Clara, die ganz aus dem Häuschen war von so viel Hilfsbereitschaft ihrer jüngeren Mitbewohner.
"Wie feierst du Weihnachten?", fragte Clara sie und Raffi erklärte ihre Pläne und kündigte Besuch am ersten Weihnachsfeiertag an.
"Oh wie schön, so mit der Familie!", freute Clara sich, "Ich treffe mich am ersten Weihnachtsfeiertag immer mit meinen Mädels. Also zumindest mit denen, die nicht mit ihrer Familie unterwegs sind. Dieses Jahr sind wir bei Elisabeth"
Raffi wusste inzwischen, dass Clara und Elisabeth sich von klein auf kannten und ihr die Freundin sehr am Herzen lag. Elisabeth war ebenfalls verwitwet und hatte einen Sohn, den sie zu Heiligabend besuchte. Sie war eine ebenso lebenslustige Frau wie Clara und die paar Male, die sie sie schon gesehen hatte, hatte sie einen sehr sypatischen Eindruck bekommen.
Als alle Einkäufe verräumt und die Getränkekisten abgestellt waren, bedankte Clara sich bei beiden.
"Wie wäre es, wenn wir am zweiten Weihnachtsfeiertag zusammen Kaffee trinken?", schlug sie dann vor.
Tatsächlich hatten beide für den zweiten Tag nichts vor und verabredeten sich für Kaffee und Kuchen. Das Angebot, etwas mit vorzubereiten schlug Clara aus. Sie bewirtete gerne Gäste, wie Raffi festgestellt hatte.
"Jetzt aber raus mit dir, ein Pferdchen wartet sicher schon sehnsüchtig auf dich!", komandierte Clara und schickte sie raus in den Regen.

Auf der Fahrt stellte sie erneut fest, wie trist dieser Tag war: Es wurde nicht richtig hell und dann wurde es auch früh wieder dunkel. Lediglich die festliche Beleuchtung brachte Lichtstreif und die Aussicht auf Weihnachten erhellte die Gemüter. So war auch Raffi guter Dinge, obwohl sie sonst so stimmungsanfällig auf Regenwetter war.
Am Hof war mehr los als sonst, es standen zwei größere Wagen auf dem Parkplatz, die bei flüchtigem Blick in Raffi die Frage weckten, ob da aktuell Tierarzt und Hufschmied gleichermaßen am Hof waren, denn im schwindenden Licht sah die nur gefüllte Hecks und keinerlei Aufschriften.
"Nimm noch mal den ersten Anschluss mit und wenn alles passt können wir bei dem Sauwetter heute endlich einpacken", hörte sie einen Ruf von der anderen Seite des einen Wagens. Sekunden später sprang ihr auch schon neonfarbene Warnkleidung ins Auge. Sie grüßte mit kurzem Nicken und beeilte sich ins Stübchen zu kommen. In dessen Tür stieß sie mit Marit zusammen.
"Sind die jetzt endlich fertig?", fragte diese eher sich selbst als Raffi, begrüßte sie dann und trat einen Schritt zur Seite, damit Raffi nicht im Regen stehen bleiben musste.
"Wer sind die und was machen sie hier?", fragte Raffi die Chefin.
"Ach mit dem Umbau.. Da fehlte noch eine Genehmigung für die Verlegung des Reitplatzes und für Genehmigungen braucht man immer Pläne und deswegen sind die Vermesser da und nehmen alles wichtige auf. Ich glaube, für die ist das auch der letzte Auftrag vor Weihnachten und die wollten mit den Messachen unbedingt durch kommen und auch für uns war es günstiger, die heute fertig machen zu lassen statt nächster Woche noch mal die Anfahrt zu zahlen", erklärte Marit.
"Bei dem Wetter sieht man garantiert viel", kommentierte Raffi.
"Ja, wahrscheinlich nicht, aber die sagten, das wäre schon kein Problem. Ich hab sie zwischenzeitlich echt fluchen gehört. War wohl doch ein Problem"
"Aber andere Frage: Gibst du heute noch Stunden oder ist die Halle frei?", fragte Raffi.
"Ne, für heute hat sich niemand mehr gemeldet, Halle ist also so frei, wie sie bei dem Wetter mit der Anzahl Einsteller sein kann", antwortete Marit.
"Anders gesagt, du garantierst für nichts?" "Ich garantiere für nichts!"
In der Stallgasse fiel die leere Box von Fairy weiterhin auf. Am Dienstag war die Nachricht herum gegangen, dass Will seine geliebte Stute hatte gehen lassen müssen. Mit ihren über 30 Jahren und den grauen Haaren hatte sie immer eine friedliche Ausstrahlung gehabt, wenn der Kopf dann aus der Box lughte und sie zuschaute, während man andere Pferde versorgte. Esme begrüßte ihre Besitzerin mit einem Maul voll Heu. Offensichtlich hatte sie wieder mal mit dem Heunetz gespielt, denn sie hatte die langen Halme überall um den Kopf herum baumeln.
"Hast du dich wieder für mich hübsch gemacht?", fragte Raffi und zupfte ein paar Heuhalme von den Ohren ihrer dunkelbraunen Stute.
Als sie wenig später mit Putzzeug, Sattel und Trense aus der Sattelkammer zurückkehrte, hatte Esme sich aufs Neue geschmückt. So blieb ihr nicht anderes, als die Stute aus der Box zu holen und eben noch einmal alle Dekohalme aus dem Langhaar zu zupfen, ehe sie die Decke abnahm und kurz überbürstete. Bei dem Wetter waren die Pferde heute drinnen geblieben. Esme hatte zwar einen Paddock, aber ein schneller Blick verriet, dass sie auch keine Lust auf das Wetter gehabt hatte. Die Hufe ausgekratzt und einmal noch nach den Nüstern geschaut, dann konnte Raffi auch schon satteln, trensen und sich auf den Weg in die Halle machen, in der gerade Maja Sommer ihren Chopin trocken ritt.
"Was ein Glück du hast!", rief sie, "Ich bin grade fertig! Aber als ich angefangen habe, waren wir hier noch zu viert"
"An Tagen wie heute muss man halt manchmal Glück haben", erwiderte Raffi.
Sie führte Esme eine Runde, stellte dann auf und gurtete nach, ehe sie sich über die Aufstiegshilfe in den Sattel schwang. Schon in den ersten Schritten merkte sie, dass Esme den Tag nur gestanden hatte. Es würde eine Weile brauchen, ehe man ernsthafter arbeiten konnte, so viel stand fest.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Stute zwischen vielen Bögen, einigen Runden Galopp, viele Galopp-Trab-Wechseln und ersten Seitengängen langsam Konzentration aufbaute, auch mehr als nur Geradeaus zu geben. Für gewöhnlich halt ein Ausritt an so hitzigeren Tagen besser, bei dem Dreckwetter war das aber keine Alternative. Raffi fragte einzelne Traversalen, Halt-Galopp-Übergänge und einzelne Galoppwechsel ab, ehe sie sich mal wieder an eine Aufgabe wagte, an der die beidne schon länger arbeiteten: Galoppwechsel.
Im einzelnen waren die nie ein Problem. Raffi saß sie, Esme sprang sie sauber und konzentriert. Sobald es aber Galoppwechsel über die Diagonale werden sollten, eine Lektion, die ab Klasse S verlangt wurde, ging es daneben. Alle sechs Sprünge klappte noch, doch in S waren sie alle 4 und später sogar durchgehend fliegend gefragt. Irgendwo blockierte noch etwas, was Raffi das Zählen unmöglich machte oder aber das korrekte Sitzen oder wasauchimmer es war, was da nicht klappte. Marit sagte in den Stunden immer, sie müsse die einzeln reiten und sauber darauf hin zählen. Raffi nahm sich also 5 Galoppsprünge vor, zählte diese ab und gab die Hilfen für den Wechsel. Esme sprang sauber um, Raffi zählte mit und Esme sprang bei 4 statt bei 5. Je verbissener Raffi es versuchte, desto gefälliger versuchte Esme, die Wechsel anzubieten und viel zu selten kam eine saubere Sequenz heraus. Auch heute wieder. Nach einer Weile versuchte sich Raffi dann an anderen Lektionen, aber der Galopp war blockiert - bei beiden!
Frustriert fragte sie noch Traversalen ab (es fehlte Elan, Esme war über die Galopparbeit müde geworden) und beendete dann das Training. Als sie letztendlich die Abschwitzdecke um sich herum auf das Pferd drapierte, um noch einige Runden im Schritt zu reiten, stand Marit an der Bande.
"Wieder nicht?", fragte sie mit traurigem Lächeln.
"Das gleiche Problem, wie sonst auch immer. Ich steigere mich rein und am Ende habe ich dreckig gesprungene Wechsel auf jedem Galoppsprung. Immerhin war es nicht so schlimm wie am Montag"
Da war der Höhepunkt der Katastrophen erreicht gewesen. Dabei konnte Esme das sogar! Kürzlich war Thilo Maus vom Reitstall Elwen hier gewesen, weil er in Rabenitz zu tun gehabt hatte und versprochen hatte, mal zu schauen. Unter ihm hatte Esme nach etwas Eingewöhnung spielend 4er, 3er und 2er-Wechsel gezeigt und hatte danach noch andere Lektionen spielend geliefert. Sie konnte natürlich nicht liefern wie ein versiertes Grand Prix Pferd, aber der Anspruch wurde an sie auch nicht gestellt.
"Deine anderen Probleme haben ihre Wurzel auch in den Wechseln. Es liegt nicht an ihr, irgendwo bekommst du es nicht zueinander und das blockiert dich", war seine nüchterne Erkenntnis gewesen.
Es tat weh zu hören, dass man selbst das Problem war. Aber was sollte er auch schön reden? Die Tatsachen lagen leider auf der Hand.
"Ich habe leider keine Idee, wie genau ich dir helfen soll, aber ich habe vielleicht eine Lösung gefunden, die dir was bringen kann", erklärte Marit.
"Was schlägst du mir vor?", fragte Raffi.
"Im Februar wird beim Pferdesportzentrum Brachstein ein Dressurlehrgang angeboten für Reiter ab Klasse M. Er soll der Saisonvorbereitung dienen, aber ich bin sicher, dir kann er auch helfen. Arno Evangelista hält ihn und gibt zwei Einzellektionen über eine halbe Stunde. Es sollen explizit Probleme bearbeitet werden. Vielleicht hat er ja eine neue Herangehensweise für euch. Ich kann dir ja mal die Ankündigung weiterleiten", erzählte sie.
"Das wäre ja eine Idee. Ich schaue es mir mal an. Danke Marit!"
"Außerdem kannst du ihr ja mal eine Abwechslung gönnen. Wie wäre es, wenn ihr zusammen einfach mal eine Springstunde macht? Das würde euch auf andere Gedanken bringen", lachte Marit.
"Dressurpferd uns Springen? Hallo? Da kann ja jeder kommen!", empörte sich Raffi spielerisch. Die Aussicht auf einen Lehrgang hatte ihre Laune erheblich gesteigert, "Nein, nur Spaß, ich werde es mir überlegen!"

Als sie später die Stute wieder in ihre Box brachte und das Sattelzeug weghängte, überkam sie der Gedanke, dass ein bisschen Sicht von Außen und ein bisschen Abwechslung mal gut tun könnten, um Kraft für neue Aufgaben zu tanken. Sie war letztendlich genau deswegen vom Reitstall Elwen weg gegangen. Für sich und für Esme.

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