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[ARI] #3| Zwei wie Pech und Schwefel [Eichenau]

in Past 26.02.2017 20:58
von Leonie • 146 Beiträge | 236 Punkte

Ein Raum in vollkommener Ruhe, nein, nicht Stille denn das wäre gelogen, lag er doch in vollkommener Ruhe dar, leise Geräusche drangen vom Fenster hinein: Geräusche des Lebens, eine Fahrradklingel, die einen unaufmerksamen Fußgänger wohl zurück in die Realität zu holen wusste, ein Auto, das etwas zu rabiat anfuhr und dazu der kühle Spätwinterwind, der noch immer um die Häuser zog, als hätte er noch nicht mitbekommen, dass seine Glanzzeit sich langsam dem Ende zu neigen hatte. Doch statt dem Gesang der Vögel, die bald ihre Heimkehr zelebrieren durften, gesellte sich nun das monotone Summen des Vibrationsalarms eines Smartphones in die allzu gemütliche Geräuschkulisse.
„Mhmhm.“, machte ich unwillig und drehte mich noch einmal auf die andere Seite, die Decke bis zu den Ohren ziehend. Das interessierte den Störenfried in meiner sonntäglichen Morgenidylle nicht im Mindesten: Mein Handy drehte sich weiter munter im Kreis – jedenfalls stellte ich mir vor, dass es das tat, bei dem Lärm den es verursachte. Noch einmal schloss ich die müden Augen fest und hoffte, dass es einfach aufhören würde, doch der Mensch am anderen Ende des Smartphones, also eher der imaginären Leitung, ihr wisst schon, was ich meine, war ein verdammt durchhaltefähiger. Noch immer surrte es, nun nahezu nachdrücklicher.
Ich gab mich geschlagen. Mühsam richtete ich mich auf, versuchte die Massen an Decken zu entwirren, die sich verheddert hatten und griff, zerzaust wie nur ein Morgenmuffel ausschauen konnte, nach meinem Telefon.
„Mh?“, bekam der Anrufer nur einen unwilligen Gruß von mir zu hören, doch wer mich kannte, wusste, dass das um diese Uhrzeit (welche war es denn eigentlich?) und an diesem Wochentag (Sonntag!) noch das höchste der Gefühle war, was man mir entlocken konnte.
„Dir auch einen wunderschönen Guten Morgen!“, flötete es aus dem Lautsprecher derart motiviert entgegen, dass ich beinahe gewillt war, die Lautstärke herunter zu drehen, um nicht aus dem Bett gebrüllt zu werden.
„Du elendiger Morgenmensch.“, erfolgte meine Reaktion noch immer recht wortkarg, doch immerhin richtete ich mich nun so auf, dass ich mit dem Rücken gegen das Ende meines Boxspringbettes gelehnt halbwegs angenehm sitzen konnte.
„Harte Nacht?“
„Hm-mh.“, erwiderte ich nahezu stumm, mit einer Bestätigung, die so tief aus meiner Kehle klang, dass es eigentlich Bände sprach.
„Ich bin gerade ein wenig froh, dass ich dich nicht mit Facetime oder sowas angerufen habe.“
„Danke, du Arsch!“, versuchte ich ernst zu bleiben, doch ich kam nicht umhin, leise und heiser zu lachen. „Wir haben mit ein paar Leuten nach der Sperrstunde im Pub noch hier weiter gefeiert.“
„Ohoh! Wild, wild unterwegs. Schon im Bett neben dir nachgeschaut?“, stichelte mein Gegenpart direkt weiter.
„Gähnende Leere, da sei dir mal sicher.“ Nun lachte ich herzlich, warf aber einen kurzen rückversichernden Blick neben mich. „Ich weiß allerdings nicht, wie das im Wohnzimmer aussieht.“
„Hast du etwa den halben Pub mitgenommen?“
„So ungefähr. Aber ehrlich, du rufst doch nicht an, um dir anzuhören, wie mein Arbeitstag verlief. Was ist los?“, kam ich schließlich zum Ernst der Sache, auch wenn sich der Gedanke, dass Enéas einfach angerufen hatte, um sich nach meinem Tag - oder eher meiner Nacht – zu erkundigen, ungewöhnlich warm anfühlte.
„Vielleicht sollte ich das demnächst einfach mal tun.“, murmelte es auf der anderen Seite, halblaut und schnell, von seinem Akzent fast verschleiert aber doch unüberhört. „Aber ja, ich hab gute Neuigkeiten. Zlatan läuft besser als je zuvor und ich würde sagen, ihr könnt zusammen wieder durchstarten.“
„WAAS?“, ich quiekte beinahe amüsiert, was dank meiner etwas belegten und rauchigen Stimme als Zeuge der letzten Nacht, irritierend klang. Nachdem ich das letzte Mal auf dem Gelände der Winters gewesen war, wo momentan noch mein zweites Pferd untergebracht war, um sich von einer Verletzung zu erholen, hatte sich ein bisschen was getan. Bei meinem Besuch, hatte Zlatan sich von seiner besten Seite gezeigt, ich hatte ihn sogar wieder voll belasten können – und keine drei Tage später, rutscht er auf dem Paddock weg und fing sich wieder in einem massiven Rückschlag. Nun war zwar die erhoffte Box auf Eichenau frei geworden, doch meinem Vierbeiner war es die letzten Wochen noch nicht derart gut gegangen, dass ich die vorzüglichen Reha-Methoden der Winters hätte ausschlagen können. So war dieser Anruf Balsam für die Seele und so lange erwartet, dass ich am liebsten direkt los gedüst wäre, um den sanften Schwarzen abzuholen.
Am anderen Ende des Gesprächs ertönte ein heiseres Lachen, kurz aber unverkennbar. „Der Junge hat sich gut gemacht. Er läuft wieder ganz klar und ist so ziepig, wie eh und je, wenn er mal einen Tag stehen musste. Ich würde also sagen, dass es höchste Zeit ist, ihn wieder in deine Obhut zu geben.“
„Ooh, ich freu mich!“, erwiderte ich strahlend und legte ähnlich viel Nachdruck in meine Stimme, wie in das Strahlen auf meinen Zügen, als ich mich daran erinnerte, dass man Gesichtszüge bei einem normalen Telefongespräch nun mal nicht sehen konnte. „Wenn du mir sagst, wann es dir passt, organisier ich einen Hänger und komme ihn holen.“
„Nix da, ich bring ihn dir runter. Wollte mir doch längst mal anschauen, wie es mit Ico läuft. Ab wann hast du denn die Box für ihn?“, erkundigte sich Enéas.
„Theoretisch ist eine frei, aber ich müsste das mit Jana klären. Wann könntest du ihn denn frühestens bringen?“
„So … in zwei Stunden?“
„Du Spinner.“
„Nein, immer Ernst. Ist mein freier Tag heute, ich würd mir den Transporter schnappen und runter fahren.“
„Ernsthaft?“
„Ernsthaft.“
„Ich ruf Jana an, zwei Sekunden.“

Natürlich waren die zwei Sekunden mehr als zwei Sekunden, aber dennoch war das Gespräch mit Jana, die schon im Stall herum wirbelte anstatt wie ich, faul im Bett zu liegen, sehr kurz. Das Ergebnis war eine amüsierte Jana, die mir aber bestätigte, dass die Box frei und schnell hergerichtet wäre und der Ankunft des mysteriösen Zlatans eigentlich nichts im Wege stünde. Es ist selten, dass ich vor Freude quietsche und heute tat ich es gleich zweimal. Das war eindeutig kein normaler Tag.

Meine Tür knarzte leise, die „Leiden“ eines Altbaus, als ich sie sanft aufschob und hinter mir wieder ins Schloss zog. Auf leisen Sohlen und mit frischen Stallklamotten über dem Arm, tappte ich durch das großzügige Wohnzimmer, nicht ohne jedoch einmal kurz inne zu halten und dem Gesamtwerk zu huldigen. Unsere Ledercouch wurde vollkommen von Matze eingenommen, der den weiten Weg zu seinem Bett, einmal über den Flur, wohl als zu anstrengend befunden hatte und seelenruhig auf dem Sofa schlief. Vor ihm türmten sich auf dem Couchtisch leere Chipstüten, Bierflaschen und Weingläser auf, die Überreste eines feinen Abends, und immerhin keine weitere Schnapsleiche außer der, die ich ja schon kannte. Schmunzelnd schlich ich weiter ins Bad und machte mich flink fertig für den Stall.

„Kaffee?“, tönte es leise aus der Küche, als ich mich schließlich fertig umgezogen in den zweiten Gemeinschaftsraum unserer WG begab. Erstaunt trat ich zu meinem großen Bruder, küsste ihn lächelnd auf die Wange und nickte.
„Bitte.“
Joris reichte mir eine dampfende Tasse und nahm sich selbst eine, bevor er sich an den Küchentisch setzte und mit geschickten Griffen einen Apfel zerteilte. Ich gesellte mich zu ihm und ließ mich gegenüber mit dem Rücken an der Wand und den Füßen auf dem zweiten Stuhl abgestützt nieder.
„Lebt Matze noch?“, fragte Joris, während dieses leicht amüsiert-spöttisch wirkende Schmunzeln seine Lippen umspielte.
Mir entwich ein leises Kichern. „Ich hoffe doch! Atmen tut er jedenfalls noch, aber vielleicht sollten wir ihm auch eine Tasse Kaffee hinstellen, um ihn wieder unter die Lebenden zu holen.“
„Apropos lebende, was machst du schon auf?“ Joris schaute ein wenig erstaunt, war ihm der Umstand, dass ich an einem freien Sonntagmorgen nun doch schon relativ früh auf den Beinen war, gerade erst aufgefallen.
„Enéas hat mich geweckt.“, erwiderte ich und trank genüsslich einen Schluck des heißen Kaffees, war meine Stimme doch ein wenig brüchig bei diesem kurzen Satz.
„Enéas ist hier?“
Nun hatte ich meinen Bruder vollends verwirrt. Ich lachte leise. „Nein, Enéas hat angerufen, um mir zu sagen, dass er in zwei Stunden mit meinem Pferd vor der Haustür steht.“
Joris Gesichtszüge hellten sich auf und ein Grinsen legte sich nieder. „Ehrlich? Du bekommst Zlatan heute wieder?“
Ich nickte und auch mein Lächeln war wie in Stein gemeißelt. „Ja. Ich muss auch gleich los, die letzten Vorbereitungen treffen, bevor sie ankommen. Kommst du mit?“
Ein Zwiespalt schien sich in meinem Bruder niederzulegen, er wog für und wider ab, bis er schließlich seufzte und den Kopf schüttelte. „Ich glaub, das schaff ich nicht, aber ich komm später vorbei und schau mal wies dem Dicken geht.“
Ich nickte, schenkte meinem Bruder noch ein herzliches Lächeln und trank meinen Kaffee aus, bevor ich ihm eines der Apfelstückchen stibitzte und dafür eine dampfende Tasse für Matze mitnahm. Vorsichtig stellte ich sie auf den Couchtisch und beobachtete noch, wie mein Mitbewohner langsam wieder zu den Lebenden kam, während ich in meine Schuhe und die Jacke schlüpfte, um den Weg zum Stall zurück zu legen.

„Guten Morgen zusammen!“ Ich streckte neugierig den Kopf über die Höhe der Bande, um erkennen zu können, wer denn da schon fleißig am Trainieren war. Als erste der beiden Reiterinnen wandte sich Jana zu mir um, die mit ihrem Routinier Millenium die Morgeneinheit absolvierte, doch auch Erin, im Sattel des massigen Rappen Tibbe winkte mir freundlich zu, bevor sie sich wieder der Trabarbeit widmete. Jana hingegen parierte auf meiner Höhe zum Stand durch und grinste.
„Guten Morgen, Miss Spontan!“, lachte sie mir entgegen und ich kam nicht umhin, in ihr Lachen einzufallen.
„Gut, den hab ich verdient.“, stimmte ich zu und wäre wohl errötet, hätten meine Wangen nicht eh schon einen rosigen Farbton ob der Kälte angenommen, die mir im unbarmherzigen Gegenwind auf dem Fahrrad zu einem steten Begleiter in diesem Winter geworden waren.
„Tut mir echt leid, dass das so spontan war. Enéas rief vorhin an und sagte einfach nur sowas wie ‚Wenn ihr soweit seid, bring ich ihn in zwei Stunden vorbei!‘. Da kann ich nun wahrlich nicht nein sagen.“
„Kann ich verstehen.“, nickte Jana milde lächelnd. „Die Box ist auch fast fertig, musst nur mal schauen, ob alles okay ist und eventuell selbst ein Heunetz reinhängen, weil er ja genau zwischen den Rationen ankommt. Aber ich muss zugeben, ich bin ja sehr gespannt.“
„Ich präsentier ihn nachher.“, witzelte ich ausgelassen. „Dann erwarte ich euer Urteil im Stübchen.“
„Genau! Wir versammeln uns zum Richterspruch.“
„Haha, ich freu mich. Okay, aber dann schau ich mal, dass ich alles soweit geregelt bekomme. Erin, steht dein Stütchen draußen oder muss ich sie auf die Ankunft eines heißblütigen Spaniers vorbereiten?“ Meine Stimme schallte nur halblaut durch die Halle, erreichte die Berufsreiterin aber mühelos. Nun gesellte auch sie sich kurz zu uns, um nicht zurückrufen zu müssen.
„Scalli steht noch drinnen. Aber du könntest eventuell das Fenster zu Nachbarbox schließen, damit sie sich erst einmal kennen lernen können.“, schlug sie vor und nickte noch einmal lächelnd zu uns, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmete.
„Okay, dann will ich euch mal nicht weiter aufhalten.“, lachte ich, winkte Jana und auf Verdacht einfach mal dem verglasten Reiterstübchen zu, falls sich dort auch noch jemand versteckte und machte mich selbst dann auch auf den Weg, meiner Arbeit nachzugehen.

Der Paddockstall empfing mich mit der regen Geschäftigkeit, die einen Stall nun mal an einem ruhigen Sonntagmorgen umgab: Malmende Pferdemäuler, ab und an mal das Scheuern einer Stalldecke an der Zwischenwand und leises Gegrummel, um einen Neuankömmling zu begrüßen. Meine Schritte lenkten mich flink zur Box meines Jungspunds, der meine Ankunft mit einem tiefen Brummeln quittierte und gegen die Boxentür drängte.
„Na, Pony, ist dir langweilig?“, begrüßte ich den Schimmel mit gedämpfter Stimme und ließ meine Hände über den immer mehr ausschimmelnden Kopf des Hengstes streichen. „Hat Wally besseres zu tun, als dich zu bespaßen, hm?“
Ich warf einen Blick die Stallgasse entlang: Die Box des braunen Wallys direkt neben der von Ico war leer und ich vermutete ihn und Besitzerin Bianca entweder beim Training in der kleinen Halle oder sogar auf einem Turnier, doch ich hätte gelogen, wenn ich mir bei letzterem sicher gewesen wäre. Ansonsten waren die meisten Boxen leer, das Wetter spielte schließlich mit, um den Pferden einen Tag auf den weitläufigen Koppeln zu ermöglichen. Vermutlich stand Ico auch nur drinnen, weil sein bevorzugter Koppelkumpan noch nicht wieder da war. Aber der zweite war ja auf dem Weg. Bei diesem Gedanken schmunzelte ich, hatten Zlatan und Ico doch einen Großteil von Icos Leben zusammen auf der Koppel verbringen dürfen. Der kräftige Schwarze war dabei auch nicht gerade zimperlich mit dem nach und nach bulliger werdenden Schimmel umgegangen und so hatten sich zwei Raufkumpanen gefunden, die sich aber durchaus tolerierten, was ja nun nicht gerade wenig wert war, wenn man einen Hengst sein Eigen nannte.

„So ein richtiger Kerl bist du gar nicht, hm?“, schmunzelte ich und war insgeheim froh, dass Ico nicht im Deckeinsatz gewesen war, denn in dieser Zeit, in der er beinahe noch täglich mehr Kraftreserven entdeckte, war es mir doch lieber, einen Hengst zu händeln, der die Freude des Lebens, oh, pardon, des Liebens noch nicht hatte kennen lernen dürfen. So zeigte er sich auch meist erstaunlich händelbar, was ich nicht zuletzt auf die Eigenschaft dieser hervorragenden Rasse schob.
„Aber der andere halbe Kerl kommt gleich, Dicker, schau am besten mal draußen, ob sie schon ankommen.“ Mein Murmeln war so leise, dass es wohl kaum die Ohren meines Pferdes erreichte, doch er legte ein wenig den Kopf schief und wartete darauf, dass es endlich losging. Worauf wartete ich denn bitte, er war da, ich war es, also konnten wir doch anfangen? Ich schmunzelte, steckte dem jungen Wilden noch ein Leckerchen aus der Jackentasche zu und machte mich dann auf den Weg zu der zweiten Box, die bald von einem meiner Schützlinge bevölkert sein würde.

Die Tür stand noch offen und ich warf einen prüfenden Blick hinein, ob auch wirklich alles so war, wie es sein sollte, wenn ein Pferd in eine noch ziemlich neue Box einzog. Zufrieden trat ich auch mal auf den Paddock hinaus und grübelte noch, ob ich die Tür zum Bereich draußen erst einmal schließen sollte, damit er sich mit Scalli nicht unbedingt direkt in die Haare bekommen konnte, doch entschied mich schließlich dagegen, weil ich um die Neugier des Wallachs wusste, alles zu erkunden. Wie von Erin geraten schloss ich allerdings das Fensterchen in der Trennwand zu der Palominostute und trat schließlich heraus, wo mir die goldene Nase des Ponys schon entgegen gereckt wurde.
„Hi Scalli.“, meinte ich gedämpft und strich der Ponystute sanft über die Stirn. „Du bekommst einen zweiten Nachbarn. Der ist manchmal ein bisschen doof, scheu dich also bloß nicht, dich durchzusetzen. Aber eigentlich ein ganz lieber.“ Ich kraulte sie noch ein wenig an ihrem hübschen Kopf und schaute etwas gedankenverloren aus der Paddocktür heraus.

Heute war gewissermaßen ein Stichtag, auch wenn es mir ein wenig zu dramatisch anmutete es so zu nennen, wenn ich wirklich ehrlich war. Ich war schon immer eher der Weltenbummler gewesen, selten lange irgendwo „Zuhause“ und ein Zuhause definierte sich bei mir auch eher durch die Anwesenheit meiner Familie, also meines Bruders Joris und meines Halbbruders, zu dem der Kontakt zuletzt aber sehr sporadisch geworden war. Er trieb sich irgendwo in der Weltgeschichte herum, reiste und tat genau das, wofür wir alle irgendwie standen: Überall und nirgendwo daheim. Wir selbst waren jetzt auch nicht gerade mit irgendeiner Heimat verbunden, kamen unsere Eltern doch aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt und meist war es wirklich so, dass ich ankam, wo auch mein Bruder sich aufhielt. Wir stritten, nicht selten und heftig, aber wir hielten immer zusammen.
Irgendwann hatte es mich dann doch kurzzeitig sesshaft werden lassen: Nachdem ich mein Bachelor-Studium noch in drei verschiedenen Ländern absolviert hatte, weil ich die Möglichkeit des Reisens nicht auslassen wollte, zog es mich – und den lackschwarzen Zlatan – während des zweiten Teils meiner Ausbildung dann nach Kirchbergen, wo es mich dann tatsächlich mal zwei Jahre lang an einem Ort hielt. Das an sich war schon ungewöhnlich genug und dass dann auch noch mein Bruder komplett woanders lebte, war vollkommen neu. Doch ich kam an. Ich baute mir mein Leben dort auf, lernte die Winters und Vazaos kennen und dachte für eine Weile, dass ich dort bleiben könnte. Nun hatte es mich ja mittlerweile nach Eichenau verschlagen, weil ich in dieser Ecke ein Jobangebot bekommen hatte, das ich schlicht und ergreifend nicht hatte ablehnen können. I’ll make you an offer, you can’t refuse…, hallte es in meinem Kopf und ich schmunzelte dabei. Würde alles glatt gehen und so weiter laufen wie bisher, könnte ich mich in nicht allzu ferner Zukunft Firmengründerin nennen. Dass heute Zlatan nach Eichenau zog und ich damit, auch wenn es erneut sehr dramatisch klingt, meine letzten Zelte in Almkirchen abbrach, hatte etwas Endgültiges. Nun stand meiner Zukunft hier, wie auch immer sie sich entwickeln mochte, nichts mehr im Wege.

Plötzlich kam Bewegung in die Stallidylle. Hufe scharrten durch Einstreu-Berge, Decken streiften an Paddocktüren vorbei und tiefes Grummeln erhob sich aus so mancher Kehle, der noch verbliebenen Stallbewohner. Ich wandte mich aus den Tagträumereien gerissen um, nur um noch sehen zu können, wie auch mein Schimmel den schnellen Weg nach draußen antrat – gefolgt von einem hellen, neugierigen Wiehern. Auch wenn ich meinem Hengst nicht andichten wollte, Enéas Auto zu kennen, so war doch unverkennbar, dass da draußen etwas vorging – und da ich nicht weniger neugierig war, wie die Vierbeiner die mich umgaben, machte nun auch ich mich auf den Weg die Stallgasse entlang, um den vorderen Ausgang in Richtung des Parkplatzes zu nutzen.
Als die Stalltür hinter mir gerade ins Schloss fiel, wandte ich mich im Gehen kurz um, meinen neugierigen Hengst vorn an der Ecke stehend erblickend, der wie gebannt hinüber zum Parkplatz sah. Ich schmunzelte. ‚Wenn du wüsstest, wer da kommt…‘
Enéas schien sich noch zu sortieren, während ich an die Fahrertür trat und forsch grinsend ans Fenster klopfte. „Bom dia!“, strahle ich ihm entgegen, als er schließlich die Tür öffnete und sich aus dem Fahrersitz schälte.
„Oi! Tudo bem?“ Der Dunkelhaarige verwickelte mich in eine dieser Umarmungen, die man einfach genießt: in denen man sich wohl fühlt, die nicht komisch sind, sondern pure Geborgenheit und ehrliche Zuneigung ausstrahlen. Verträumt erwiderte ich die Umarmung. „Tudo bem.“
Er schmiss die Autotür fast sanft – nicht – hinter sich zu und schob mich dann grinsend zum Hänger, aus dem schon ungehaltenes Stampfen zu hören war.
„Alles gut verlaufen?“
„Alles gut. Hängerfahren wird nie seine liebste Beschäftigung, aber er hat keine Anstalten gemacht, aufzumucken.“ Enéas nickte zufrieden, wie nachdrücklich, legte jedoch die Stirn ein wenig in Falten.
„Was ist?“, fragte ich und legte den Kopf ein wenig schief.
„Ist alles soweit fertig? Der Junge kann es sicher kaum erwarten, raus zu kommen, nicht, dass er uns noch von der Rampe hüpft, auf den letzten Metern.“
Ich nickte, wurde aber selbst nachdenklich, als gerade Jana fröhlich winkend zu uns stieß. „Na da ist er also, der ominöse Zlatan?“ Sie reichte Enéas freundlich die Hand und begrüßte den Portugiesen, der hier mittlerweile ja nahezu ein und aus ging, ohne dass er Einsteller war, herzlich.
„Jana, wärst du so gut und hilfst grad beim Ausladen?“, fragte ich, fast schüchtern. „Ich bin ein wenig paranoid, dass auf den letzten Schritten doch noch was schief geht.“
„Klar, kein Problem. Geh vorn rein und sag Hallo.“
Unsere Hofbesitzerin schenkte mir ein strahlendes Lächeln und deutete auf die Jockeyklappe am vorderen Teil des Hängers, der nun schon vor lauter Stampfen zu wackeln begann.
„Ich geh ja schon!“, lachte ich und tat wie mir geheißen.
Vorsichtig schlüpfte ich durch den schmalen Eingang und wurde sofort von einer dunklen Pferdenase empfangen, als ich mich aufrichtete. Neugierig schnoberte der Rappe zuerst an meinen Haaren und dann an den ausgestreckten Händen, die sich sogleich in sein samtenes Fell vergruben. Sanft lehnte ich meine Stirn an diese seine und spürte das tiefe Brummeln eher, als dass ich es hörte. Es war dieser kurze Moment der trauten Zweisamkeit, der all die letzten Wochen der Trennung nahezu verbleichen ließ. Vorsichtig strich ich immer wieder über das tiefschwarze Fell, als müsste ich mich noch davon überzeugen, dass der Wallach gleich nicht wieder mit einem Knall verschwinden würde. „Hallo Dicker.“

„Seid ihr soweit?“, schallte es von draußen, wo sich scheinbar Jana und Enéas schon an der Rampe zu schaffen gemacht hatten.
„Ja, sofort!“, erwiderte ich, während meine Finger noch eifrig den Knoten aus dem blauen Strick zu wirren versuchten. Die Klappe hinten senkte sich langsam nieder, als ich gerade den Strick besiegt hatte und zu Zlatan hinter die Stange stieg. Kaum war die Rampe am Boden, drängte der massige Wallach auch schon nach hinten, wurde jedoch noch von der Querstrebe an seinem Vorhaben gehindert. Sanft, aber bestimmt hielt ich ihn zurück, bis auch diese letzte Barriere zur Freiheit gefallen war.
Wie auf Stelzen, doch mit ungebremster Geschwindigkeit, stakste der Rappe über die Rampe hinunter auf festen Grund und Boden. Sein Schnaufen war kaum zu überhören und er bildete eine ganz schöne Erscheinung, wie er sich da so aufplusterte. Kaum hatte er den Transporter verlassen, schallten die ersten Rufe der anderen Pferde, die ihn von ihren Ställen aus bereits erblicken konnten, hinüber, die er gellend erwiderte und sich je nach Antwort in die jeweilige Richtung drehte. Mit festem Griff hielt ich den tänzelnden Rappen jedoch halbwegs an Ort und Stelle, während wir ihm ein paar Momente gaben, sich erst einmal zu orientieren.
„Als du von einem Iberer mit Vollblut-Einfluss sprachst, hab ich sowas irgendwie nicht erwartet.“, gab Jana amüsiert zu und trat neben uns, um den Wallach eingehender zu betrachten. Enéas und mir entlockte das ein herzliches Lachen.
„Er hat den Wahnsinn von den Hispano-Arabern, die Schnelligkeit von den Englischen Vollblütern und zum Glück einen Großteil des Wesen und den dicken Hintern von den Lusitanos.“, erklärte ich kurzerhand die Kräfteverteilung in diesem vor Kraft derzeit strotzenden Wallach, der Jana neugierig den Kopf entgegen reckte, dabei jedoch nicht gerade sanft vorging. „Und die Einfühlsamkeit eines Vorschlaghammers.“

Enéas machte sich mit flinken Fingern daran, dem Rappen die offensichtlich störenden Transportgamaschen abzunehmen und sie mir weiter zu reichen, was Zlatan mit unwilligem Schweifschlagen quittierte. „Ich fass es ja nicht, aber mein Wallach ist mehr Hengst als mein Hengst.“
„Der mit zwei oder vier Beinen?“, kam es sogleich witzelnd von Enéas, woraufhin eine der Gamaschen in geschicktem Bogen wieder zurück zu ihm flog und ihn an der Schulter traf. „Ey!“
„Aber sonst kommt ihr jetzt klar?“, erkundigte sich Jana, mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen, was mir die Röte auf die Wangen trieb.
„Ich denke schon. Wir lassen ihn grad erst einmal ankommen und vielleicht später ein wenig die Beine vertreten. Wenn was ist, brüll ich.“, lachte ich ausgelassen. „Danke für deine Hilfe und dass du das so extrem spontan möglich gemacht hast!“
Jana winkte lächelnd ab und uns dann noch einmal kurz zu, bevor sie sich in Richtung des Haupthauses abwandte. Mit einer Hand noch immer den ein wenig herumstaksenden Rappen im Zaum haltend grinste ich zu Enéas. „Dann bringen wir ihn mal ins neue Zuhause.“

Mit großen, klappernden Tritten schritt Zlatan voran, dass er viel aufgeplusterter wirkte, als man ihn sonst kannte. Ich war nahezu versucht, in mit einem eitlen Pfau zu vergleichen, der sich jetzt bei der Ankunft von der besten Seite zu präsentieren wusste und spätestens in drei Tagen in einem der Matschlöcher auf den Wiesen parken würde. So schüttelte ich nur ein wenig amüsiert den Kopf und führte ihn weiter den gepflasterten Weg zum Paddockstall entlang, wo uns schon ein neugieriger Schimmelkopf erwartete.
Ico stieß ein helles Wiehern aus, das deutlich jünger klang, als die sogleich folgende Antwort Zlatans, der sich langsam ein wenig leichter händeln ließ und mich so in Versuchung führte, ihn Ico kurz Hallo sagen zu lassen. Enéas schien zu bemerken, dass ich zögerte und zuckte mit den Schultern.
„Lass ihn lieber hier draußen kurz zu ihm, als in der Stallgasse, wenn ihn noch einer in den Hintern zwickt.“
Ich nickte zustimmend und führte meinen Rappen nun langsam in die Nähe des Schimmels, der sogleich den Hals edel wölbte und die Nase seinem älteren Kumpanen entgegen reckte. Zlatan tat es ihm nach und kurz stießen die beiden Pferdenasen in einem Moment der Stille zueinander, bevor Ico quietschte und mit einem Huf ausholte, jedoch weit davon entfernt war, Zlatan oder uns zu erwischen. Der Rappe schnoberte ruhig dem Schimmel entgegen, der viel aufgeregter schien, als der gerade erst angekommene ältere. Enéas wandte sich Ico zu und ihm gelang es, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, während ich Zlatan wieder ein paar Schritte zurück treten ließ. Das richtige Aufeinandertreffen verlegten wir wohl besser auf eine der Weideparzellen später. Während Enéas seinen ehemaligen Schützling in aller Ruhe begrüßte – und nicht minder begutachtete – gab ich Zlatan die Möglichkeit, sich noch ein wenig umzusehen, bevor es gleich erst einmal in den Stalltrakt gehen würde. Seine Konzentration galt noch für einen Moment den wenigen anderen Pferden, die sich vor Neugier auf ihre Paddocks begeben hatten, bevor dann doch das noch eher bräunliche Grün der Wiese sie auf sich zog. „Na, wenn das so spannend hier draußen ist, dann können wir auch rein.“, lachte ich und lotste den Rappen hinter mir her in Richtung des Stalleingangs.
Ico folgte uns neugierig und aufgeregt vor sich her brummelnd in das Innere des Stalltrakts und schien nahezu enttäuscht, als wir nicht noch einmal bei ihm Halt machten. Enéas hielt noch einmal kurz bei ihm inne und grinste. „Du darfst dem Alten bestimmt später noch Hallo sagen, Kleiner Mann.“, murmelte er in seiner gewohnt ruhigen Art und tätschelte dem Schimmel noch einmal den Hals, bevor auch er die letzten Meter zu Zlatans neuer Heimat hinter sich legte. Ich hatte den Rappen währenddessen in sein neues Heim geführt und löste gerade den Strick, als der Portugiese wieder zu uns trat. Zlatan inspizierte halbherzig die neue Box, bevor es ihn gleich hinaus auf den Paddock zog, von wo aus nun in unregelmäßigen Abständen ein Wiehern zu hören war. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen trat ich zu Enéas in die Stallgasse, schob die Boxentür zu, aber öffnete das Fenster zum Gang, falls Zlatan sich doch bequemen sollte, sich noch einmal zu uns zu gesellen. Währenddessen lockte ich die hübsche Palominostute zu Zlatans Rechten erst einmal zu mir, um vielleicht ein wenig Anspannung aus der Neuankunft heraus zu nehmen.
„Oh, da hat er aber eine hübsche Nachbarin!“, stellte Enéas belustigt fest und tat es mir nach, Scalli ein wenig zu kraulen, bis Zlatan sich womöglich etwas abgeregt hatte.
„Das hören wir gern.“, kam es nun von dem anderen Ende der Stallgasse, von wo aus Erin ihren Friesen Tibbe zurück in das Stallgebäude führte.
„Hi Erin!“, rief ich ihr noch einmal zu und wir platzierten uns etwas seitlicher, damit wir die beiden nicht beim Einzug in die Box behinderten.
„Hallo ihr beiden.“, Sie lächelte uns zu und schaute dann neugierig in die Box neben der ihrer Stute. „Alles ruhig bisher?“
Ich nickte. „Bin mir nicht mal sicher, ob Zlatan sie schon bemerkt hat.“
Das entlockte Erin ein Lachen. „Banause! Aber solang alles ruhig bleibt, beschwere ich mich nicht.“
Ich nickte zustimmend, als Zlatan gerade seinen Rundgang draußen beendete und zurück in die Box trottete. „Hörst du, Bursche? Manieren!“
Nun richtete sich erstmals die Neugier des Wallachs auf seine neue Boxennachbarin, die sich ihm, durch die Gitterstäbe der Boxen getrennt, zu wandte und prustete. Dieses Mal war es Zlatan der ein wenig quietschte, doch auch Scalli quittierte den Neuankömmling mit kurz angelegten Ohren und einem Quietschen. Sonst blieb es jedoch soweit ruhig.
„Zeig’s im ruhig, Scalli. Du musst dir nichts gefallen lassen.“ Murmelte ich, was den beiden anderen ein Lachen abrang. „Bist du gerade noch ein paar Minuten hier?“
Erin nickte. „Ja, ich wollte erste Tibbe und dann Scalli fertig machen. Soll ich ein Auge auf ihn haben?“
„Ja, das wäre lieb. Dann können wir grad in Ruhe ausladen.“

„Immer wenn ich unsere Sättel hin und her schleppen muss, frag ich mich, warum wir nicht einfach Dressur reiten können.“ Ich schnaufte, als ich endlich den schweren Vaquero-Sattel auf den Halter in meinem zweiten Spind gehievt hatte.
„Weil das zu einfach wäre, das weißt du doch.“, erwiderte mein Trainer halbernst, war er doch mit seinen Trainingspferden durchaus auch in der Dressur zu finden. „Aber apropos nicht Dressur, nimm direkt Icos Sattel mit, ich mag schon noch sehen, wie ihr zwei euch so macht.“
„Aye, Chef.“

Ein rückversichernder Besuch bei Zlatan später, der lediglich das Ergebnis lieferte, dass der Wallach sich seinem Heunetz in aller Seelenruhe zugewandt hatte, seitdem seine Boxennachbarin zu ihrem Training aufgebrochen war, machte ich mich daran, meinen jüngeren Vierbeiner fertig zu machen und zu satteln. Dank der Stalldecke sah der Schimmel auch nicht ganz so unmöglich aus, wie sie es sonst im Winter schon einmal taten und insgeheim dankte ich der Person, die heute Morgen beschlossen hatte, den Bub nicht mit auf die Weide zu stellen.
„Das wird ein Spaß gleich, er dürfte gut Feuer haben.“, murmelte ich halblaut, während ich noch einmal den korrekten Sitz des Zaums und der Serreta prüfte. Ich drückte Enéas vorsichtshalber eine Longe in die Hand – man konnte schließlich nie wissen, ob man dem Guten gleich erst einmal etwas Energie würde stibitzen müssen, bevor man sich wirklich an die Arbeit geben konnte.
„Habt ihr die letzten Tage gefaulenzt?“, fragte Enéas amüsiert, während wir uns nun auf den Weg zur kleinen Halle machten, in der Hoffnung, dass wir dort allein arbeiten können würden.
„Gefaulenzt nicht gerade, aber eher Kopfarbeit gemacht. Vorgestern hatte ich ihn unter dem Sattel, gestern hatte er dann Pause und wir haben ein bisschen Bodenarbeit gemacht. Aber er war beim letzten Mal schon so spritzig.“
„Wenn du ein nicht spritziges Pferd haben willst, geb ich dir demnächst einen Muli.“
Würde man Enéas nicht kennen, nähme man ihn so manches Mal viel zu ernst. Ich wusste um seine barsche Art der Verständigung, die manchmal genauso schnell und überraschend kam, wie sein äußerst humorvoller Auftritt bei seiner Ankunft heute. Enéas war der wohl wechselhafteste, schweigsamste, launischste und dennoch verlässlichste Mensch, den ich kannte – und das schätzte ich sehr an ihm. Irgendwann hatte ich einmal nach einem völlig verpatzten Abendessen meinem Freundeskreis eröffnet, dass es mit mir wohl nie perfekt, aber auch auf keinen Fall langweilig würde, ähnlich verhielt es sich mit Enéas. Kaum hatten wir die Halle betraten, füllte er ganz seine Rolle als Rittmeister der alten Schule, begleitet von Strenge, Disziplin und einem sehr scharfen Auge für die Kondition der Pferde. So besann auch ich mich nun auf die Ernsthaftigkeit der Arbeit und machte mich daran, Ico auf die heutige Einheit vorzubereiten.

Der Schimmel schritt eifrig neben mir aus, während wir noch ein paar Bahnen zu Fuß durch die, zum Glück tatsächlich leere, Halle drehten. Enéas hatte sich auf der Bande niedergelassen und überließ uns somit das Aufwärmen noch vollkommen allein. Er würde schon eingreifen, wenn er etwas sah, das ihm missfiel, da war ich mir sicher. Doch solange er noch auf der Bande thronte, war er noch nicht im Reitlehrermodus.

Ich schwang mich schließlich behände in den Sattel meines jungen Schimmels, der, zwar widerwillig, aber dennoch, stillstand, bis ich mich einigermaßen sortiert hatte. Ich richtete die vier Zügel ordentlich, die ganz entgegengesetzt zur englischen Dressur erst in höheren Leveln der Vaquera weniger wurden und sich nicht verdoppelten. Die Zügel die zur Serreta auf dem Nasenbein des Hengstes führten hielt ich immer deutlich lockerer, auch wenn ich die anderen ebenfalls noch nicht richtig aufgenommen hatte. Ich ließ den Schimmel anschreiten, der auf die leichte Hilfe forsch reagierte und direkt vorwärts schritt, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet. Sein Schritt war eifrig, die Ohren spielend und immer mal wieder mir zu gewandt, während ich langsam begann ihn ihm Schritt aufzuwärmen. Als wir den Spiegel an der langen Seite passierten, kontrollierte ich den Schwung der Mosqueros, der an dem Stirnriemen befestigten Schmuckriemen, die dem Reiter und den Richtern erleichterten, zu kontrollieren ob das Pferd taktrein lief. Icos Mosqueros schwangen munter und im Takt von einer Seite zur anderen, versuchte er nicht gerade, eine etwas schnellere Gangart einzulegen, als es mir lieb war.

Im Schritt die Halle erkundend ritten wir erst einmal ein paar Runden die ganze Bahn, bevor wir in immer unterschiedlichen Abständen auch zuerst größere und später kleiner werdende Zirkel einbauten. Ico schritt eifrig voran und schien nur in einer Ecke des hinteren Teils der Halle Gespenster zu sehen. Immer und immer wieder schreckte er mir zurück und schritt danach weiter, als wäre nichts gewesen. Bei jeder Runde nahm ich mir aufs Neue vor ihn forsch und mutig an seiner Horrorecke vorbeizureiten, egal welchen Spökes er mir auch trieb.

„Er verarscht dich“, fand Enéas die Worte, die mir die ganze Zeit im Kopf herum schwirrten und ich nickte verbissen, während ich Ico erneut in die Ecke lenkte und kurz davor war, eine andere Taktik auszuprobieren. Als Ico nun, energischer vorangehend und mit beiden Ohren nach hinten auf mich gerichtet, keinen Blödsinn mehr trieb, sah ich mich in seiner Spielerei bestätigt.
Ich arbeitete ihn noch ein wenig im Schritt, bevor ich das erste Mal die Trabhilfe gab und in dem schweren und nicht dafür vorgesehenen Sattel etwas unbeholfen leicht trabte. Auch hier dominierten Icos weiträumige Schritte, die für ein klassisches Arbeitspferd ein wenig zu leichttrittig wirkten. Er würde die Barriere, die Zlatan in der Dressur spätestens ab Prüfungen der Klasse L zu spüren bekam, nicht zwingend kennen lernen. Nach ein paar Runden und etwas Zirkelarbeit auch im Trab hatte Ico die gruselige Ecke schon vollkommen vergessen, viel zu sehr musste er sich auf seine langen Beine und die Balance konzentrieren. Als wir ein drittes Mal problemlos auch in der schnelleren Gangart daran vorbei gekommen war, parierte ich ihn zum Schritt durch und lobte den Schimmel, während ich ihn sich wieder strecken ließ. ‚Muskeln bauen sich nur auf, wenn auf Spannung auch immer wieder Entspannung folgt‘, hatte nicht zuletzt Enéas mir eingebläut.
„Er zeigt einen ordentlichen Trab“, rief mein Trainer uns zu, als wir uns im Schritt auf dem Zirkel auf seiner Höhe bewegten. Ich nickte. „Auch wenn du den Fokus auf die Vaquera legst, kannst du das durchaus auch in reinen Dressureinheiten fördern, aber damit würde ich wohl noch etwas warten, damit er erst einmal eines komplett beherrscht. Das andere können wir immer noch ergänzend hinzunehmen.“
Ich nahm die Arbeit mit Ico wieder auf und freute mich daran, wie schnell ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich lenken konnte, auch wenn ihm eine Pause womöglich etwas Ablenkung verschafft hatte. Er reagierte sehr fein und spritzig auf meine Hilfen, wenn ich ihn dazu aufforderte, sich etwas schneller durch die Bahn zu bewegen und etwas träger, wenn es um die langsamere Gangart ging. Schließlich schickte ich ihn nach ein paar Tempowechseln, um eben jenem entgegen zu wirken, in einen ruhigen Kanter auf dem unteren Zirkel. Er sprang mir ein wenig zu forsch an, ich merkte jedoch aus dem Augenwinkel, wie Enéas zufrieden lächelte und besann mich darauf, an diesem Antritt die positive Eigenschaft der „Spritzigkeit“, die sogar im Rasseprofil verankert war, zu sehen.

Ab und an drohte mir mein Schimmel noch unter dem Hintern davon zu laufen, doch mit unvermindertem Gleichmut und massiver Geduld wiederholten wir die Übungen, ich meine Gewichtshilfen und versuchend die Schenkel möglichst ruhig zu halten, um dem Jungspund keinen Anlass zu geben, erneut nach vorn zu preschen. In wenigen Jahren würde ich wohl meine wahre Freude daran finden, dass Ico so fein an den Hilfen stand und wenn ich mir so anschaute, welch ein Traum Zlatan unter dem Sattel in Sachen Reaktionsfähigkeit war, dann konnte ich es kaum erwarten, auch mit Ico irgendwann – natürlich in aller Ruhe – einmal so weit zu sein. Bis dahin war es aber zum Glück noch ein langer gemeinsamer Weg und für heute beließ ich es nahezu bei den Tempowechseln, die dem Jungspund noch genug zu arbeiten gaben.
Ein wenig Arbeit im Schritt schadete allerdings auch einem so jungen Pferd wie meinem nicht wirklich. Ich nutzte also den zweiten Teil unserer, gewohntermaßen sehr kurzen Einheit – man mag die Aufmerksamkeitsspanne ja nun auch nicht überstrapazieren und später mit einem lustlosen Pferd dar stehen – noch verschiedene Wendungen und Volten einzubauen, die in ferner Zukunft einmal die Grundlagen für die Pirouetten bilden würden.
„Er steht extrem gut an den Hilfen“, stellte Enéas nüchtern fest, als Ico mir gerade ein wenig zu empathisch vom Schenkel weg sprang. Ich lachte.
„Etwas zu gut“, erwiderte ich amüsiert und kassierte einen finsteren Blick meines Trainers. „Jajaja, sowas gibt’s nicht, ich weiß. Wir arbeiten nur noch an der richtigen Dosierung der Hilfen UND der Reaktionen.“
Er nickte ein wenig besänftigt. „Aber bisher sieht das doch ganz gut aus. Wie oft hast du ihn unter dem Sattel?“
„Maximal dreimal die Woche. Eher weniger“, erwiderte ich wahrheitsgemäß, nachdem ich kurz hatte überlegen müssen, wie meine letzte Woche mit dem Schimmel ausgesehen hatte: zweimal Arbeit unter dem Sattel, zweimal etwas Kopfarbeit an der Hand und die benötigte Bewegung im Roundpen, den Rest der Woche hatten wir mit Spaziergängen oder Koppeltagen verbracht.
„Behalt das vorerst noch bei. Er hat Spaß an der Arbeit, das sieht man, und das sollten wir ihm bloß nicht nehmen“, führte Enéas gedankenverloren unsere Vorsätze für die nächsten Wochen bis Monate aus. „Wobei ich zugeben muss, dass ichs kaum erwarten kann, ihn irgendwann mal bei der Arbeit am Rind zu sehen. Oder zu reiten.“
Ich lachte herzlich auf und hielt auf der Höhe der Stelle, wo Enéas noch immer auf der Bande saß. Das war übrigens ein sehr gutes Zeichen, denn sah er Handlungsbedarf und ich eine Schimpftirade im Anflug, war das erste, was er tat, immer von der Bande herunter zu hüpfen. „Ich denke, dass ich ihn dir durchaus mal anvertrauen werde.“
Ico wandte neugierig den Kopf zu dem alten Bekannten, während ich mich aus dem Sattel schwang und den Hengst ausgiebig lobte. Trotz kleinerer Differenzen hatte er sich wirklich gut angestellt, das wusste ich und schmunzelte bei dem Gedanken, dass so manches Training mit Zlatan mehr Probleme barg als dieses heute mit dem deutlich jüngeren Ico.

„Ha, aber eines zeigen wir dir noch“, grinste ich vielversprechend und betete innerlich, obwohl nicht im Geringsten gläubig, geht es nicht gerade um den Fußballgott, dass nun nicht dieser verflucht-berüchtigte Vorführeffekt eintreten würde. Ico, der schon zu ahnen schien was folgte, trat mit mir wieder ein paar Schritte in die Bahn und wartete aufmerksam, bis ich mich neben ihm postiert hatte. Deutlich zeigte ich auf sein gerade entlastetes Bein und schnalzte einmal gut hörbar mit der Zunge. Ico zögerte einen Moment und hob dann den linken Huf schwungvoll in die Höhe, setzte ihn jedoch nur einen kleinen Schritt vor dem anderen wieder ab. Ich hatte in den letzten Wochen gesehen, wie schnell das Pony in Übergröße lernte und vor allem wie fix er sich Sachen merken konnte, sodass es mich nicht wunderte, dass er wie von selbst auch das zweite Bein hob, die Prozedur wiederholte und es neben das andere absetzte. Erwartungsvolle dunkle Augen blickten zu mir, während Enéas in schallendes Gelächter ausbrauch – was, gelinde gesagt, selten war. Etwas pikiert blickte ich zu ihm, hatte ich doch wirklich viel Spaß daran gehabt, die Grundlagen für den Paso Espanol bei Ico zu legen.
„Ey!“, schimpfte ich und lobte Ico ausgiebig, damit der sich das bloß nicht zu seinem großen Herzen nahm. „Du warst auch schon mal netter unterwegs, ach, wem mach ich was vor…“
„Entschuldige, aber …“, er keuchte vor Lachen und der gemeine Teil in mir, wollte ihn von der Bande schubsen. Wenigstens ein bisschen. „… wenn ihr so weiter macht, steht Ico in der Brücke da, er hat seine hinteren Hufe nämlich nicht ein Stück bewegt, während ihr vorn immer weiter lieft.“
Kurz runzelte ich die Stirn und betrachtete kritisch die Haltung meines Hengstes, nur um festzustellen, dass Enéas – mal wieder! – Recht hatte. „Verdammt. Ico, ich wusste, wir haben irgendwas vergessen!“

„Ganz ehrlich: Mach ruhig genauso weiter, wie bisher. Nimm ihn überall hin mit, wenn du denkst, dass es ihm hilft“, Enéas strich Ico gedankenversunken über den noch dunkel-gräulichen Schopf. „Geh ruhig Turniere mit ihm, das schadet nicht, solang du ihm keinen Druck aufbaust. Hauptsache, er lernt alles einmal kennen.“
Ich nickte gelehrig und vollendete den letzten Kardätschenstrich über den etwas angeschwitzten Schimmelrücken, bevor ich die Bürste in der Kiste wieder verschwinden ließ. „Wir gehen es langsam an, aber ich finde auch, dass Hänger fahren, Turniertrouble und all sowas durchaus zum Alltag gehören darf. Wir starten auch gerne außer Konkurrenz, was mein Dicker?“
Aus dem hinteren Teil der Stallgasse ertönte ungeduldiges Scharren. „Erziehung ist bei deinen Pferden einfach nicht drin, oder?“, stichelte Enéas.
„Wohl! Aber weißt du was? Ich pack Ico und Zlatan jetzt mal eben noch auf eine der Weiden. Da können sie noch ein bisschen toben und der Dicke da hinten hält auch eher Ruhe“, beschloss ich kurzerhand und drückte meinem Trainer den Strick von Ico in die Hand, während der Schimmel sogleich begann, nach einer Leckerei zu betteln. Auch wenn Enéas sich immer so streng gab, wusste ich genau, dass er seine Pferde, insbesondere natürlich seinen lackschwarzen Hispano-Liebling Cipriano bis zum geht-nicht-mehr verwöhnte.
Mit eiligen Schritten zog es mich zu der Box meines schwarzen Lehrmeisters, der sogleich munter brummelnd zu mir an die Boxentür trat und etwas Essbares erwartete. „Später, Schatz, wollen wir noch kurz toben gehen? Familienzusammenführung, hm?“

Wenige Momente später machten wir uns der Reihe nach auf den Weg zu den Weiden. Mittlerweile senkte sich die Sonne schon langsam hinter die Hügelkuppen, doch für eine halbe Stunde Toberei auf den Weiden würde das wohl noch ausreichen. Ich ging mit Zlatan zügig voran und sah nur aus dem Augenwinkel, wie Enéas Ico immer wieder sanft, aber bestimmt und vor allem mit dem längeren Atem, an sein eigenes Tempo erinnerte. Die klappernden Hufe, der beiden nun mal nicht wirklich leichtgewichtigen Iberer lockten Bianca und Erin aus dem Halleneingang, woraufhin sie sich zu der dem Hof am nächsten gelegenen und leeren Weideparzelle mit uns begaben.
„Na, was gibt das? Playdate?“, spöttelte Bianca ein wenig, aber gut gelaunt und lächelnd drein blickend.
„So ungefähr!“, rief ich lachend zurück und versuchte gerade, Zlatan so auf die Weide zu bugsieren, dass Ico hinterher kommen konnte, ohne sich direkt die Begrüßung des schwarzen Pos abzuholen. Erin griff ein und hielt Enéas das Tor hinter uns auf, damit das unfallfrei über die Bühne ging. Mit etwas Abstand zueinander lösten wir beide die Stricke und schlüpften dann wieder hinter die fein säuberlich gestrichenen Holzlatten des Weidezauns, um das Spektakel von dort aus zu beobachten.
Zlatans erste Aktion war es, und wie hätte es anders sein können, als mit einem schallenden Wiehern den Sprint über die Länge der Parzelle zu starten. Ico, kurz unentschlossen wohin mit sich, richtete sich auf, spitzte die Ohren und folgte dem älteren und gut bekannten Wallach in gestrecktem Galopp. Ich lachte leise. „Das alte Spiel werden sie nie los.“

Mein Rappe scheuchte seinen jüngeren Kumpanen voller Eifer über die Weide, bis sie sich schließlich schnaufend und mit edel gewölbten Hälsen gegenüberstanden. Eine Woge der Anspannung befiel mich, war dies doch einer der Momente, in denen sich entschied, ob sie weiter munter spielend über die Weide tollten, oder sich doch noch in einen Rangkampf um die bessere Position in der Liste verfingen. Mit einem jugendlichen Quietschen und dem Rückwärtsgang Icos war allerdings auch dieser kurze Moment der Sorge verflogen und ich verlor mich völlig im Anblick dieser zwei spielerisch raufenden Compadres.
„Morgen packen wir Walley mal noch mit dabei und dann können wir die drei abends komplett müde in die Boxen tragen“, stellte Bianca grinsend fest und richtete auch ihren Blick wieder auf die beiden Wildfänge.

Ich lächelte zufrieden. Wie hätte ich auch nur irgendetwas anderes sein sollen? Ich nannte zwei wundervolle Pferde mein Eigen, die auch noch problemlos miteinander auskamen, was ja nicht mal bei Wallachen zwingend gegeben war. Mein Trainer war mittlerweile zu einem echten Freund herangewachsen und bot mir mit der richtigen Mischung aus Strenge und Witz einen wunderbaren Begleiter im und außerhalb des Sattels und nun standen wir hier, einen so ereignisreichen Tag abschließend, in Gesellschaft zweier der Mädels, die für mich zu Eichenau schon komplett dazu gehörten und sich irgendwie in mein Herz geschlichen hatten. Ich war hier wirklich angekommen. Hatte mich sonst immer noch dieses flaue Gefühl befallen, wenn ich an die nächste Woche dachte, so konnte ich den morgigen Montag und nun stelle sich das mal einer vor!, kaum erwarten, bedeutete er doch einen weiteren Tag in der neuen Heimat, der sicherlich seine Herausforderungen für mich bereit halten würde – doch irgendetwas in mir gab mir plötzlich dieses Sicherheit, dass ich sie schon irgendwie meistern würde.

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